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«Was Sorgfalt bedeutet, ist immer wieder neu zu vereinbaren»

Ein Interview mit Soziologe Ueli Mäder über Sorgfalt in der heutigen Gesellschaft.

Im Interview erklärt Ueli Mäder, dass die Bedeutung von Sorgfalt auch von der Definition und davon abhängig sei, wann es sich lohne, etwas weniger gewissenhaft zu sein, und warum er aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen eher zuversichtlich beobachte.

Welche Dinge tun Sie in Ihrem Alltag besonders sorgfältig?

Mit viel Sorgfalt putze ich abends die Zähne, und morgens beim Aufwachen reflektiere ich meine Träume.

Gibt es Dinge, die Sie lieber etwas hinschludern?

Ich staubsauge oft, aber sehr zügig.

Was bedeutet für Sie Sorgfalt?

Heute bedeutet es für mich, Sorge zu tragen und achtsam zu sein. Wenn ich eine Tätigkeit zugewandt ausführe oder mich auf eine Begegnung eingehend einlasse, so nehme ich den Moment konzentrierter wahr, und er kann mir deshalb etwas Wertvolles zurückgeben. Früher als Kind habe ich jedoch die Aufforderung «sei sorgfältig» eher als Vorwurf verstanden, und sie ist ja auch oft so gemeint: «Sei sorgfältig» heisst dann, man macht etwas noch nicht gut genug.

Wie bildet sich eigentlich ein gesellschaftlicher Konsens heraus, was ein Wort bedeutet?

Normen verändern sich in der Gesellschaft. Eine neue Praxis verbreitet sich und wird nach und nach zur allgemeinen Gewohnheit. Ich ging früher davon aus, dass sich zuerst die Struktur einer Gesellschaft verändern müsse, damit sich etwas bewegt. Heute denke ich etwas anders: Jeder Schritt ist wichtig. So ist es auch mit unserem Verhalten. Es wirkt ebenfalls mit. Ich erlebe im Alltag viele Menschen, die sich trotz gängigem Profitdenken sehr sozial verhalten, das stimmt mich etwas optimistisch. Die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum spielt jedenfalls in beide Richtungen.

Und was heisst nun «Sorgfalt» in unserer Gesellschaft?

Verbreitet ist wohl das Verständnis, etwas genau zu nehmen, etwas nicht kaputt gehen zu lassen und andern rücksichtsvoll zu begegnen. Diese Bedeutung kommt wohl in den meisten Kulturen vor, mehr oder weniger ausgeprägt, je nachdem, wie geld- und konkurrenzgetrieben die gesellschaftlichen Verhältnisse sind.

Aber jede Definition ist normativ und keine fixe Wahrheit. Über das, was Sorgfalt ist, müssen wir uns verständigen, denn jede Person versteht etwas anderes darunter. Die Bedeutung von Sorgfalt muss immer wieder neu ausgehandelt werden auf der Grundlage von sich stets wandelnden Voraussetzungen.

Gibt es Dinge, bei denen Sorgfalt nicht immer zu zufriedenstellenden Resultaten führt?

Wenn wir uns zu sehr auf das Genaue, Präzise fokussieren, dann ist weniger Pingeligkeit manchmal mehr. Weil uns sonst die Zeit davonrennt, und wir in Details hängen bleiben. Manchmal gibt es Abläufe, die eigentlich bestens geregelt sind, aber trotzdem nicht richtig funktionieren. Dann kann es ein Segen sein, wenn Menschen etwas probieren, das weniger dem Schema F entspricht. Auch in der Sozialforschung habe ich immer dazu ermuntert, der Intuition mehr Raum zu geben. Wenn wir alles verplanen, sind uns situativ die Hände gebunden. Wenn wir uns aber Freiräume lassen, kommen wir eher zu neuen Erkenntnissen.

Wie hat sich bei uns der soziale Umgang untereinander in den letzten 60 Jahren verändert? Nehmen wir mehr aufeinander Rücksicht als früher?

Im Oberbaselbiet, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir vor 60 Jahren teilweise mehr Freiheiten in der Freizeit, als Jugendliche heute haben. Gleichzeitig standen wir unter einer engen sozialen Kontrolle mit autoritären Strukturen. Das führte zu einer Zwangsgeborgenheit mit einem ausgeprägten Entweder-oder-Prinzip: Man wusste genau, wie man sich zu verhalten hat, damit man dazu gehörte und suchte dann mehr Freiheit in der Anonymität und Urbanität.

Heute haben wir häufiger pluralisierte soziale Strukturen. Das führt dazu, dass junge Menschen ein neues Verständnis von Identität entwickeln, das Ambivalenzen zulässt. Diese Individualisierung wirft Menschen aber mehr auf sich zurück. Der Aufbruch brachte zum einen mehr Rechte, zum andern mehr Anonymität mit sich. Etlichen ist es dabei allzu kühl geworden. Sie suchen aus freien Stücken wieder mehr soziales Miteinander und eine Verbindlichkeit, die nicht wie früher zwangsverordnet und aus der Angst motiviert ist.

Wie steht es um den Umgang mit Minderheiten? Sind wir solidarisch mit Menschen, die etwa in Armut leben oder mit einer Beeinträchtigung?

Soziale Sicherheiten sind heute selbstverständlich geworden. Die AHV, die IV, die Mutterschafts- und andere Versicherungen sind wertvolle Errungenschaften, wobei sich teilweise ein Rückbau abzeichnet. Dass für alle gesorgt ist, stimmt leider nicht immer. Wir sind alle aufgefordert, solidarisch zu sein. Ohne dass wir einander helfen und uns gegenseitig im Alltag unterstützen, könnte eine Gesellschaft nicht existieren. Manchmal denkt man, dass meine Hilfe für jemand ja nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Aber das läppert sich zusammen. Solche sozialen Mechanismen sind wichtig. Denn unsere Gesellschaft ist stark hierarchisiert und durch den Ego-Kult strapaziert. Das bekommen Minderheiten besonders zu spüren. Sie spiegeln uns, was wir selbst fürchten.

Gibt es Tendenzen, die Ihnen diesbezüglich auffallen? Was können wir verbessern?

Wir leben in einem dominanten wirtschaftlichen Wachstum, das mehr Ressourcen verbraucht als regeneriert. Das dokumentieren ökologische und soziale Folgen. Die einen reagieren darauf verdrängend und versuchen die Probleme just mit ähnlichen Mitteln zu bewältigen, die sie erzeugen. Andere realisieren, dass wir achtsamer leben müssen und uns nicht auf Kosten von andern bereichern dürfen. Ich bin zuversichtlich, dass sich weitere soziale Veränderungen verwirklichen lassen. Denn Menschen und Gesellschaften sind lernfähig.

Ueli Mäder

Ueli Mäder

Geboren 1951, Wirtschaftsmatur, Studium der Soziologie, Psychologie und Philosophie. Grundausbildung in Psychotherapie. Zunächst Geschäftsleitung einer Entwicklungsorganisation. Dann Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW). 2001-2004 Extraordinariat an der Universität Fribourg und von 2005 bis 2016 ordentlicher Professor an der Universität Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und Konfliktforschung.

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